Vom Schaf zum Stoff

Die erste greifbare Frischfaser- Lösung für die FabCity Hamburg

Dieser Text ist im Rahmen des AP3 D.tec.bw/ EU Next Gen „Fab City Hamburg“ entstanden.

Für eine erfolgreiche FabCity, die Güter produzieren soll, ist der Zugang zu regionalen Werkstoffen entscheidend. Die Versorgung mit textilen Produkten bis 2054 erfordert die Suche nach und Förderung von bereits vorhandenen Materialien sowie die Erforschung und Entwicklung neuer. Die Etablierung von Kreislaufpraktiken wie Reparatur und Recycling ist unbestritten. Trotzdem wird eine FabCity nicht umhinkommen, auch auf kreislauffähige Frischfasern zurückzugreifen. Der aktuelle Forschungsauftrag konzentriert sich auf die Fertigung von Bekleidung für Freizeit, Wohlfühlen und Business, was eine breitere Materialrecherche nach regionalen, kreislauffähigen Rohstoffen einschließen konnte. Diese sollten für die ersten Forschungshandlungen in größerer Menge und standardisierter Form verfügbar sein, um eine Replizierbarkeit im Kontext der distributiven Fertigung zu ermöglichen.

Im Rahmen der FabCity Hamburg ist die gegenwärtige Verfügbarkeit von textilen Materialien begrenzt. Dennoch birgt dieser Bereich erhebliches Potenzial für Faserinnovationen, die jedoch spezifische Projektgruppen, Zeit, institutionelle Unterstützung und finanzielle Mittel erfordern. Das laufende Forschungsprojekt stößt bereits an seine Kapazitätsgrenzen und kann nicht alle textile Potenziale im Detail behandeln und anwenden. Dieses Paper soll daher Einblicke in einen spezifischen textilen Rohstoff geben, der bereits hohes Potenzial für eine regionale Produktionsstraße hat und auf den bereits zugegriffen werden kann.

Das Ziel dieses Dokuments ist nicht, alle potenziellen Faserquellen aus Hamburg und der Region im Detail zu erörtern, da dies den Rahmen sprengen würde. Vielmehr geht es darum, auf einen bestimmten, greifbaren Rohstoff aufmerksam zu machen, der eine wesentliche Grundlage und Stellschraube für die Entwicklung einer vollständig regionalen Produktionskette für textile Flächen darstellt. Die Informationen und Erkenntnisse, die in diesem Dokument präsentiert werden, basieren, sofern nicht anders angegeben, auf persönlichen Gesprächen mit Akteur*innen, die in der Industrie tätig sind, Schafe halten oder Labels für Garne führen. Eine immer wiederkehrende Einstiegsfrage ist gewesen:
Was braucht es um wieder regiolokal produzieren zu können? 

Schafschurwolle in Deutschland: Eine Betrachtung der aktuellen Situation

Schafschurwolle ist ein sehr konkreter und spezifischer Rohstoff, der für Hamburg bereits jetzt eine wichtige Rolle spielt und theoretisch (!) erste Produkte nach den FabCity-Kriterien entstehen lassen könnte. Allerdings gilt dies nur, wenn die 50 km Umkreis-Grenze ausgeweitet wird, da sich die essentiellen Produktionsschritte wie Wäscherei, Krempelei/Kardiererei, Spinnerei, Färberei usw. (noch) nicht in diesem Umkreis befinden. Die wichtigsten Akteur*innen und Rohstofflieferanten, die Schafe, sind jedoch schon präsent. Sei es auf Deichen in der Küstennähe im Hamburger Umland, in Hamburg selbst in den Boberger Dünen oder vereinzelt in kleinen Herden auf der Wedeler Au.


In der Welt der Textilindustrie gibt es eine Vielzahl von tierischen Fasern, die unterteilt werden in Schafschurwolle, feine Fasern von Tieren wie Kamelen, Mohairziegen oder Angorakaninchen sowie Seide. Innerhalb dieser Gruppe stellt Schafschurwolle die größte Kategorie dar. Wenn im Textverlauf über Wolle als Faser gesprochen wird, bezieht sich der Begriff hauptsächlich auf die Wolle vom Schaf. Feine Fasern aus regionalen Quellen wie z.B. Alpakafasern spielen eine eher untergeordnete Rolle in der Gesamtproduktion, sollten jedoch langfristig im FabCity-Kontext ebenfalls Beachtung finden.


Es ist wichtig zu betonen, dass Schafschurwolle aus Deutschland auf dem globalen Fasermarkt nur eine geringfügige Bedeutung hat und allgemein wenig Beliebtheit in der Bekleidungsindustrie genießt. Es gibt zwar Ausnahmen, aber sie sind nicht bedeutend genug, um einen wesentlichen Einfluss auf den Weltmarkt zu haben. Deutsche Wolle findet zur Zeit ihren Absatz vor allem in der Baubranche, wird entsorgt oder von den Schäfer*innen eingelagert mit der Hoffnung auf bessere Zeiten auf dem Wollmarkt.


Im Jahr 2020 betrug die weltweite Produktion von textilen Fasern insgesamt 109 Millionen Tonnen. Es ist interessant festzustellen, dass Wolle lediglich einen Anteil von 1,09 Millionen Tonnen dieser Gesamtproduktion (Kategorie Frisch- und Recyclingfaser) ausmacht. Im Vergleich dazu dominierte Polyester mit einem Marktanteil von 57,08 Millionen Tonnen die Faserproduktion und belegte den ersten Platz, gefolgt von Baumwolle mit 26,48 Millionen Tonnen Marktanteil1. Die Schafe, die für diesen Faseranteil von 1,09% verantwortlich sind, werden hauptsächlich in Australien, Neuseeland, China, Südamerika und Südafrika gezüchtet. Diese Länder bestimmen daher den Weltmarkt in Bezug auf Preis und Qualitätsstandards. Europa und Deutschland spielen in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle und sind kaum relevant. Dies kann unter anderem durch die bevorzugte Faserqualität erklärt werden, die von modernen Industriemaschinen reibungsloser verarbeitet werden kann und auch von den Endverbraucher*innen, die ein weniger kratziges Produkt bevorzugen2. Die Bevorzugung feinerer Wollfasern lässt sich insbesondere anhand der Micronzahl nachvollziehen, einer Einheit, die die Feinheit der Fasern angibt. Je niedriger die Micronzahl ist, desto feiner ist die Faser und desto weniger kratzig wird sie wahrgenommen - wobei es auch hier subjektive Empfindungen in einem Spektrum gibt. Australische, neuseeländische und südamerikanische Merinofasern haben eine Micronzahl von 15 bis 24, während europäische Merinofasern zwischen 26 und über 30 pendeln, was spürbar gröber ist. In unseren Breitengraden und klimatischen Bedingungen benötigen Schafe diese gröberen Micronzahlen aufgrund von Wind, Regen, Feuchtigkeit und Kälte, sowohl in den Küstenregionen als auch in den Bergen. Das Fell schützt die Schafe auf natürliche Weise vor den rauen Witterungsbedingungen. Australische Schafe, insbesondere die Rasse der Merinoschafe, hingegen leben das ganze Jahr über bei trockenen, warmen bis heißen Temperaturen auf der Weide, wodurch die Fasern feiner werden und auf dem Weltmarkt gefragter sind.

Seit den 80er Jahren wurde die regionale Wolle in Deutschland spürbar verdrängt - neben der ganzen Verlagerung der Textilindustrie in den außereuropäischen Raum, der Etablierung synthetischer Fasern und - was nicht nur zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze führte, sondern auch zu einem drastischen Rückgang der Preise für ein Kilogramm Rohwolle. Dennoch werden Schafe bis heute für die minimalinvasive Landschaftspflege eingesetzt und beweiden unsere Deiche, die vor Überschwemmungen schützen und für eine Biodiversität sorgen. Die jährlich anfallende Wolle durch die Schur der Schafe ist nicht viel mehr wert als 30-80 Cent pro Kilo bei alten Schafrassen wie Heidschnucke, Steinschaf oder Leineschaf und etwa 1 Euro pro Kilo bei Merinolandschafen, die in Europa die feinste Wollqualität bieten.3 Diese Preise sind aktuell nicht wettbewerbsfähig für regionale Schafhalter*innen, die zudem mit zusätzlichen Ausgaben für die Schur ihrer Tiere konfrontiert werden; eine fachgerechte Schur eines Schafes kostet etwa 3-4 Euro. Ein erheblicher Teil der Rohwolle wird entsorgt, günstig nach China verschifft für die Dämmstoffproduktion oder findet in begrenztem Umfang den Weg in die Weiterverarbeitung zu Garn und Flächen, wie es z.B. bei den Garnlabels von Elbwolle/Vauno und Mährlewolle der Fall ist, die als geographisch nächste textile Rohstoffquelle zu Hamburg im AP3 als Pilotprodukt zu einer Gastrodecke verarbeitet wurden.


Zusammengefasst ist die industrielle Infrastruktur zur Herstellung von Garn und textilen Flächen aus Schafwolle in Deutschland - mit Lücken - noch vorhanden, jedoch in überschaubarer Anzahl an Spinnereien, Färbereien, Wirkereien und Webereien. Der Verkauf von Spinnereien und Unternehmensaufgaben hält an, was auch mit sich bringt, dass relevantes textiltechnisches Wissen in Deutschland stetig verloren geht und die Industrie jetzt schon nur noch eingeschränkt funktioniert. Wenn wir in diesem Bereich Resilienz und Unabhängigkeit beibehalten möchten - auch im Sinne der Umsetzung einer FabCity - muss es zur Stärkung dieses Sektors kommen durch Innovationen und mehr Dialogstrukturen zwischen Forschung, Industrie, kleineren Betrieben und Schafhalter*innen. Denn die Industrie, die noch in Deutschland produziert, bevorzugt australische Merinowolle, um einen reibungslosen Produktionsablauf an ihren Maschinen zu gewährleisten, denn auf diese Feinheiten wurden die Maschinen eingestellt. Es braucht jetzt aber mehr Mut und Zusammenschluss für Ideen, wie wir unsere wilderen lokalen Fasern verspinnt bekommen, wie es schon einmal möglich gewesen ist, ohne dieses Vorhaben zu romantisieren.


Die Lücken der regiolokalen Wertschöpfung schließen

In der deutschen Textilindustrie zeichnen sich Bewegungen zur Wiederbelebung regionaler Wollfasern ab. Gespräche mit verschiedenen Akteur*innen haben gezeigt, dass es engagierte Gruppen in Deutschland gibt, die sich für eine Renaissance der regionalen Schurwolle einsetzen. Diese Akteur*innen lassen sich grob in zwei Interessengruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht z.B. aus professionellen Schafhalter*innen, Lohnspinner*innen, Designer*innen im Bereich Slow Fashion oder ökologischer Inneneinrichtung, Architektur, Forscher*innen, Landschaftspfleger*innen und Hobbyschäfer*innen. Sie sind in locker organisierten Gruppierungen, im Einzelkampf, über Vereine oder Zuchtverbände aktiv. Die zweite nennenswerte Interessengruppe ist die Deutsche Wollvereinigung, die unter dem Dach der IWTO (International Wool Textile Organization) agiert. Diese Interessengruppe setzt sich vor allem aus Akteur*innen der deutschen Textilindustrie zusammen und trägt dazu bei, dass Deutschland 40% seines Produktionsvolumens exportieren kann.4 Neben der IWTO ist auch Sachsenlein e.V. ein wichtiger Akteur mit personellen Überschneidungen zur Deutschen Wollvereinigung, der an Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie ausgewählten Unternehmen angegliedert ist und neben anderen textilen Innovationen auch im Bereich regionaler Schurwolle aus Sachsen forscht.


Ende April 2023 hatten die House of All UG und die FabCity Hamburg Initiative die Möglichkeit, das Forschungsprojekt in Tirschenreuth (Tuchweberei Mehler in Bayern) bei der Tagung der Deutschen Wollvereinigung vorzustellen. Neben der Möglichkeit zur Vorstellung des Forschungsvorhabens und erster Ergebnisse haben sich auch für uns Möglichkeiten ergeben, ein erstes Bild davon zu bekommen, was die deutsche Textilindustrie und Wirtschaft bewegt und auch hindert, regionale Schurwolle einzukaufen und zu verarbeiten. Denn der wertvolle Rohstoff Schurwolle fällt in Deutschland jährlich an, und dessen ist sich auch die Deutsche Wollvereinigung bewusst: 1,5 Millionen Schafe im Jahr 2022 lieferten ca. 6-7000 Tonnen Vlies. Das ergibt umgerechnet ein Potenzial für etwa 1,16 Millionen Pullover jährlich. 5 6 Im Laufe der Forschungs- und Recherchezeit im Rahmen des AP2, in Gesprächen mit diversen Akteur*innen und auch während des Treffens der Deutschen Wollvereinigung, haben sich zwei entscheidende Herausforderungen herauskristallisiert, die das Vorhaben regionaler Wolle bis heute hemmen: eine fehlende Wollwäscherei in Deutschland und die variierende Faserqualität, zum Beispiel innerhalb einer Charge, die zu komplizierter industrieller Weiterverarbeitung führen kann.


Wollwäscherei


Die letzte deutsche Wollwäscherei schloss ihre Tore im Jahr 2009. Aktuell müssen Schafhalter*innen, die ihre Wolle waschen lassen möchten, dies in Ländern wie Belgien, Polen, Tschechien oder der Region Tirol tun. In Deutschland fällt unbehandelte Wolle unter die Kategorie des Sondermülls (K3-Material, tierisches Nebenprodukt). Das bedeutet, dass sie ohne Einhaltung von Auflagen nicht transportiert und weiterverarbeitet werden darf und auch auf eigene Kosten der Schafhalter*innen entsorgt werden müsste.

Die Interessengruppe, bestehend u.a. aus Schäfer*innen, die das Fehlen einer Wollwäscherei in Deutschland beklagt, versucht in Eigeninitiative und mit begrenzten finanziellen Mitteln voranzukommen. Das Bestreben dieser Gruppe wird vor allem durch die Tatsache angetrieben, dass ihre Rohwolle von kleinen Schafherden in großen Wäschereianlagen oft keine professionelle Reinigung erhalten können. Die Mindestmenge für eine Wäsche liegt oft bei mehreren hundert Tonnen, während kleine Herden in der Regel darunter liegen.


Wollmengen unter 10 Kilo können vielleicht noch im eigenen Garten mit Regenwasser gewaschen werden, aber dieser Prozess ist weder wirtschaftlich noch qualitativ so hochwertig wie eine professionelle Reinigung. Abgesehen davon befindet sich diese Handlung in einer rechtlichen Grauzone aufgrund der Qualifizierung als Sondermüll.

Trotzdem gibt es kleine Unternehmen, die das Waschen von Rohwolle anbieten, jedoch mit sehr schwankender Qualität, die den industriellen Standard nicht immer erreicht, da diese oft noch zu viele Verunreinigungen und Lanolin enthält. Ein gutes Beispiel für eine kleine funktionierende Produktion ist die Kleine Spinnerei in Springe/Niedersachsen, die auch selbst waschen kann, allerdings nur in Mengen von 2-3 Kilo pro Waschgang und dank einer landwirtschaftlichen Betriebslizenz, da auf dem Hof der Spinnerei Schweine und Kaschmirziegen gehalten werden.


In der Schweiz, die in vielen rechtlichen Fragen anders als EU-Länder funktioniert, ist die Frage nach der Wollwaschanlage kein Thema. Es gibt Anlagen, die fähig sind, die ausgewaschenen Stoffe zu filtern und entsprechend auch so aufzuarbeiten, dass diese wiederverwertet werden können, wie z.B. das rausgewaschene Wollfett. Eine kleine Menge an verteilten Wollwäschereien in der EU fängt den Bedarf auf, Wolle für die Weiterverarbeitung zu textilen Produkten zu waschen. Das Auftragsvolumen ist groß und die Wartezeiten betragen aktuell zwei Jahre.


Es wird deutlich, dass eine Wollwäscherei in Deutschland dringend benötigt wird. Die Herausforderung besteht darin, wer diese Wäscherei baut und wer gesicherte Waschplätze erhalten wird und wer nicht. Wenn sich das Netzwerk und die Akteur*innen der deutschen Wollvereinigung durchsetzen, ist zu erwarten, dass die Industrie wieder nur mit großen Mengen arbeiten wird. Das bedeutet, dass kleine Rohwollmengen kaum eine Chance haben, gewaschen zu werden, und die wichtige Arbeit von Schafhalter*innen in kleinen Landschaftspflegeprojekten nur begrenzte Möglichkeiten hat, Wolle aus eigener Produktion anzubieten. Als Gegenpol wäre die Etablierung von deutschlandweit verteilten Wollwäschereien, die fähig sind, kleinere Mengen zu waschen.


Standardisierung der Vermessungs und Klassifizierung:
Problem der variierenden Faserqualität

Während der Tagung der Deutschen Wollvereinigung wurde deutlich, dass neben dem Fehlen einer Wollwäscherei auch die heterogene Faserqualität (Micron, Farbe und Länge) der deutschen Schafe eine Herausforderung darstellt. Viele Schafherden sind zu klein, und die Qualität der Wolle von Herde zu Herde kann durch ungünstige Kreuzungen der Tiere untereinander sehr stark variieren. Dies erschwert die Arbeit der Wolleinkäufer*innen und setzt sie einem unternehmerischen Risiko aus; der Handel mit standardisierter außereuropäischer Ware ist zur Zeit sicherer und risikoärmer.

Unterstrichen wurde die unterschiedliche Faserqualität und herausfordernde Verarbeitung am Beispiel aus der Spinnerei Forst, die durchaus fähig ist, regionale Schurwolle zu feinem Garn zu verarbeiten, dies aber ungern macht. Der Grund liegt darin, dass die ungleich verteilten Fasern und Faserlängen die Spinnmaschinen zum Stehen bringen, durch das Reißen des gesponnenen Fadens im Prozess. Das neue Verbinden der Fasern und das Starten der Maschinen kostet den Betrieb wertvolle Zeit und Geld, was im Normalbetrieb nicht leistbar ist, und die Zusammenarbeit mit Unternehmen wie die von Elbwolle/Vauno für eine attraktive Garnfeinheit von Nm 18/2 nach wie vor rar ist. Gröbere Qualitäten mit einer Garnstärke z.B. um Nm 1,9 ist weniger Herausfordernd und eine gängige regiolokale Garnstärke.


Ein weiterer vielversprechender Ansatz besteht darin, das Wissen über faserfreundliche Haltung und Züchtung zu intensivieren, um die Qualität insgesamt zu verbessern. Die Schur der Schafe ist ein weiterer Faktor, der erheblichen Einfluss auf die weiteren Verarbeitungsprozesse hat. Eine Schur ist ein körperlich anstrengender Prozess, der aktuell nicht attraktiv vergütet ist. Dementsprechend ist es im Interesse der Scherer*innen, so viele Schafe wie möglich in kurzer Zeit zu scheren. Dies bedeutet aber, dass die besonders wertvollen Körperstellen (lange Faserlänge) der Schafe nicht sauber geschoren werden und auch unattraktive Stellen (zu kurze Faserlänge), wie das Hinterteil, Hals und Beine, nicht gut aussortiert werden.


Ebenso macht es einen Unterschied, ob die Schur direkt auf dem Boden im Stall oder Feld stattfindet oder mit einer entsprechenden Unterlage, die verhindert, dass sich noch mehr Äste, Heu, Kot und anderer Schmutz verfängt. Je mehr Schmutz das Vlies aufweist, desto aufwendiger ist der Reinigungsprozess, und desto unattraktiver wird verschmutzte Wolle für die Wäscherei, Kardiererei und Spinnerei; das Risiko für unterbrochene Spinnprozesse steigt, je mehr Verunreinigungen sich im Vlies befinden.


Der nächste Schritt ist, für einheitliche Klassifizierungsprozesse zu sorgen und die Etablierung gewisser Standards, mit einer entsprechenden Dokumentation und Archivierung schon beim Verpacken der Schurwolle in die BigPacks, die den Handel erleichtern.


Ausblick: Handlungsbedarf

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein enormes Potenzial für die regiolokale Schafschurwolle besteht und zwei aktive Interessengemeinschaften sich auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene für die Revitalisierung dieses vernachlässigten Bereichs der deutschen Textilindustrie einsetzen. Die erste deutsche Wollwäscherei ist eine naheliegende und dringliche Maßnahme, um die umfassende Verarbeitung von Schafschurwolle zu ermöglichen. Dies sollte unter Einsatz modernster technologischer Standards im Hinblick auf Energie- und Wasserverbrauch erfolgen, mit der Möglichkeit zur Weiterverwendung des gefilterten Abwassers und Fetts, wie dem Lanolin, um eine nachhaltige Produktion in der Region zu gewährleisten.

Es ist entscheidend, aktive Initiativen und Unternehmen auf politischer Ebene zu stärken, die den Bau und Betrieb einer solchen Wollwäscherei übernehmen können. Gleichzeitig ist es unerlässlich, geregelte Waschplätze sicherzustellen, um kleinen Schafherden die professionelle Reinigung ihrer Wolle zu ermöglichen. Diese Maßnahmen sind von großer Bedeutung, da sie die Grundlage für eine nachhaltige und effiziente Verarbeitung von regionaler Schurwolle schaffen.


Eine intensivere Vernetzung zwischen der Deutschen Wollvereinigung und relevanten Akteurinnen, wie Schäfer*innen und Zuchtverbänden, ist erforderlich, um gemeinsame Ziele effektiver zu verfolgen. Diese Zusammenarbeit kann dazu beitragen, Synergien zu schaffen und die Bemühungen für eine nachhaltige Entwicklung der regionalen Wollindustrie zu verstärken. Ein weiterer wichtiger Schritt besteht darin, gezielte Kooperationen zwischen Schafhalter*innen, kleineren Wollverarbeitungseinrichtungen und der Textilindustrie aufzubauen. Durch diese partnerschaftliche Zusammenarbeit können gemeinsame Lösungen für die bestehenden Herausforderungen gefunden werden.


Um die Qualität der Schurwolle zu fördern, ist es von entscheidender Bedeutung, Schulungen und Informationsveranstaltungen für Schafhalter*innen zu intensivieren. Entscheidende Institutionen werden die deutschen Zuchtverbände sein, deren Fokus verstärkt auf Rassemerkmalen für die Fleischindustrie liegt. Das Ziel ist es, Empfehlungen für faserfreundliche Haltung und Züchtung zu vermitteln, um die Gesamtqualität der Wolle zu verbessern. Der Wissensaustausch über professionelle Schafschurpraktiken sollte gefördert werden, um sicherzustellen, dass sehr gute Faserqualitäten durch eine korrekte Schur erhalten bleiben.


Auch sollten kleinere Wollmengen für die Industrie attraktiver werden und die Einführung von Förderprogrammen oder Anreizen in Erwägung gezogen werden. Diese Maßnahme soll sicherstellen, dass auch geringere Mengen regionaler Schurwolle eine realistische Chance haben, auf dem Markt Fuß zu fassen und somit die vielfältige Arbeit von Schafhalter*innen in Landschaftspflegeprojekten zu unterstützen.


Die Bewegungen zur Wiederbelebung regionaler Wollfasern in der deutschen Textilindustrie zeigen, dass es eine engagierte Gruppe von Akteurinnen gibt, die sich für die Renaissance der regionalen Schurwolle einsetzt. Trotz dieser positiven Entwicklungen stehen die Herausforderungen einer fehlenden Wollwäscherei und variabler Faserqualität im Vordergrund. Durch den Aufbau einer Wollwäscherei, verstärkte Vernetzung der Akteurinnen, Bildung und Qualitätssicherung in der Schafschur sowie gezielte Fördermaßnahmen können bedeutende Fortschritte erzielt und die Attraktivität regionaler Schurwolle gesteigert werden. Für das Vorhaben der FabCity Hamburg ist ein naheliegendes Projekt, interessierte Schäfer*innen aus der Region zusammenzubringen und eine Produktionsstraße (von der Faser bis zum Garn) zu entwickeln und langfristig zu etablieren. Dies erfordert im Idealfall den Bau einer OpenSource Wollwaschanlage für kleine bis mittlere Kapazitäten und der Platzierung kleiner Spinnereien innerhalb der FabCity Hamburg und Region, nach dem Vorbild der kanadischen Belfast Mini Mills.7, die über den prototypischen Status der HILO Spinning Machine anwendbares Material produzieren können.

Solange nicht die Etablierung einer textilen Produktionsstraße mit der Idee der OpenSource-Technologie, Werten und bedarfsgerechter Ökonomie innerhalb der FabCity Hamburg angedacht und beispielsweise in einer Anschlussforschung umgesetzt wird, wird der Werkstoff Textil für die FabCity Hamburg weiterhin von anderen deutschlandweit verteilten Standorten der Industrie abhängig sein und sein Ziel der lokalen Produktion nicht erreichen - egal, ob es sich um kreislauffähige Frisch- oder Recyclingfasern handelt.

1https://textileexchange.org/materials-dashboard/

2Stell dir vor, du stehst vor einer Wahl: ein grober, kratziger Pullover oder ein feiner, leichter. Intuitiv entscheidest du dich wahrscheinlich für den feinen Pullover, da allein die Vorstellung des Groben und Kratzigen auf deiner Haut unangenehm erscheint. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Feinheit oder Grobheit der Fasern nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Qualität, artgerechte Tierhaltung oder umweltfreundliche Produktion zulässt.

3https://greenup-magazin.de/ist_schurwolle_aus_deutschland_nichts_mehr_wert/

4https://www.politische-bildung.nrw.de/themen/infoseite-strukturwandel-textil-und-bekleidungsindustrie#:~:text=Trotz%20des%20Strukturwandels%20ist%20die,Produktion%20auf%20den%20internationalen%20Markt.

5https://iwto.org/sheep/

6https://de.statista.com/statistik/daten/studie/163426/umfrage/entwicklung-des-schafbestands-in-deutschland-seit-1900/

7https://minimills.net/



Nicole Kiersz 18. Dezember 2023
Diesen Beitrag teilen
Stichwörter
Archivieren
Circular Design Starter Kit
Eine Fibel über bewusstes Design & Analoges Materialarchiv / Region Hamburg